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literatur

Cover für „Die Filmerzählerin“ von Hernán Rivera Letelier

Die Filmerzählerin

Hernán Rivera Letelier

Eine trostlose Bergarbeiter-Siedlung in der chilenischen Atacama-Wüste Anfang der 1960er Jahre. Die Familie der zehnjährigen Maria Margerita lebt in einer Wellblechhütte, von der Bergwerksleitung stillschweigend geduldet, nachdem der Vater wegen eines Arbeitsunfalls gelähmt ist. Die einzige Abwechslung in der staubigen Einöde ist der allwöchentliche Kinobesuch. Doch die Invalidenrente reicht gerade mal für das Essen, Kino für alle ist nicht drin. Kurzerhand lobt der Vater einen Wettbewerb unter Maria und ihren vier Brüdern aus: derjenige, der den Film am besten nacherzählt, soll für alle ins Kino gehen. Maria gewinnt den Wettbewerb mit einer fulminanten Nacherzählung von „Ben Hur“. „Während ich den Film erzählte (…), war mir, als würde ich mich aufspalten, zu einer anderen werden,... An dem Abend war ich Ben Hur, der Held. Ich war Messala, der Bösewicht. Ich war die beiden leprakranken Frauen, die von Jesus geheilt wurden. Ich war der leibhaftige Jesus. Ich erzählte den Film nicht, ich spielte ihn. Mehr noch: ich lebte ihn. … So wurde ich zur offiziellen Filmerzählerin des Hauses.“

Und nicht nur des Hauses, sondern der ganzen Nachbarschaft, die sich zunächst am Fenster lehnend, Marias Filmerzählungen anschaut. Schon bald kommt jemand auf die Idee, man könnte Eintritt verlangen. Aus einer Bank, ein paar alten Stühlen, zwei umgedrehten Salzkisten und einem Bierkasten wird ein Kinosaal und die Kosten für die allwöchentliche Kinokarte und Marias Requisiten sind eingespielt. Voller Stolz wirbt der Vater, selbst wenn der Originalfilm schwarz-weiß ist, das erzählte Kino seiner Tochter sei „in Technicolor und in Cinemascope“. Maria singt, tanzt, duelliert sich und kapert fremde Schiffe. Und ein Kuss ist nicht einfach ein Kuss. „Ich sagte nicht: ,Dann hat er sie auf den Mund geküsst', sondern ich kostete es ein bisschen aus: ,Da löschte er seine Zigarette, sah ihr tief in die Augen, legte seinen starken Arm um sie und drückte seine Lippen auf ihre'.“

Hernán Rivera Leteliers schmaler, gerade mal 100 Seiten umfassender Roman ist nicht einfach eine verkitschte Liebeserklärung an die Macht der Bilder und das große Kino. Dazu schwingt bei aller Poesie zu viel echtes Leben mit, Armut, Ausbeutung, Abhängigkeit. Und doch endet Marias Lebensinhalt nicht mit dem sexuellen Übergriff des verhassten Geldverleihers, der sie für eine „Privatvorstellung“ bucht. Auch nicht mit der Verhaftung ihres Bruders, der diese Vergewaltigung rächt. Auch nicht mit dem Tod ihres Vaters, der ihr wichtigstes Publikum war. Er endet erst, als ihre Kunst nicht mehr gefragt ist. „Das Fernsehen befiel die Siedlung wie eine unbekannte und hochgradig ansteckende Krankheit.“

Erschienen bei Insel Taschenbuch / 7,99 €

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